Der Caudillo Chávez und Prof. Michael Zeuske


Ich lese in Amerika21 einen Artikel vom Prof. Zeuske aus dem Jahr 2009. Prof. Zeuske hatte vor vielen Jahren ein interessantes Buch über Miranda geschrieben. Er hat auch u.a. Eine Kleine Geschichte Venezuelas und Von Bolívar zu Chávez geschrieben. Ich werde später darüber schreiben. Hier will ich etwas über den Artikel bei Amerika21 kommentieren. 

Meine Enttäuschung ist schon gross. Ich hätte eine  Analyse erwartet, die auch die  sozialen und wirtschaftlichen Daten seit 1958 aus primären Quellen und nicht die durchgekauerte Interpretation gemäss einer bestimmten politischen Gruppe berücksichtigt.

Laut Herr Zeuske ist Chávez kein Caudillo. Anscheinend denkt Herr Zeuske, den Begriff "caudillo" lasse sich ganz säuberlich nach irgendeinem Geschichtsbuch definieren.  Zuallererst: Caudillo ist nicht ein DIN- oder ISO-Begriff. Es ist auch nicht mal ein Begriff, der von den Historikern einheitlich definiert wird. Das sollte Herr Zeuske selbst wissen, er ist Historiker.  

Argumentation?

"Er war Offiziersschüler einer Akademie; er hat die Universität abgeschlossen."

Hallo? Also ist jemand kein Caudillo, weil dieser jemand an einer Militärakademie war? Wieso denn nicht? Jeder Militär in Venezuela muss seit fast 100 Jahren die Militärakademie besuchen. Ist jemand weniger Caudillo, wenn er die Universität abgeschlossen hat? Hier haben wir anscheinend einen Uni-Fetischismus. Chávez hat seinen "máster" an der Universidad Simón Bolívar nicht abgeschlossen. Sein Abschluss bei der Academia Militar würde eher dem Abschluss entsprechen, den der Caudillo Francisco Franco erzielt hat. Und auch wenn Chávez an der MIT sein Studium abgeschlossen hätte und auch wenn er nicht glauben würde, dass die Menschheit "vor 20-25 Jahrhunderten" entstanden ist -etwas, was selbst der schlimmste Bachiller der schlechtesten Barinas-Schule wissen sollte-, wäre er ein Caudillo. Ein Caudillo ist vor allem ein Militär, der sich als Leiter der Nation definiert.  Chávez selbst definiert sich so. Ein Caudillo ist jemand, der darüber hinaus keine Gewaltteilung respektiert, der den Pluralismus verabscheut und nie eine echte - echte - Debatte akzeptieren wird. Ein Caudillo ist ein Militär, der sich als "der Führer des Landes bezeichnet".

"Chávez hat eine Vielzahl sauberer Wahlen und Referenden gewonnen..." 

Ja, so sauber wie Lukaschenko in Weissrussland. Eigentlich hat Lukaschenko - der von der EU seit langem als Diktator angesehen wird - eine weit grössere Popularität als Chávez. Der Hauptunterschied bei der EU besteht vorwiegend darin, dass die EU ihre "EU-Wahlkommission" in Venezuela im Jahre 2006 vorwiegend aus einem Caracashotel arbeiten liess und sie in Weissrussland einen besseren Job tut- nicht nur in der Hauptstadt, Minsk. Chávez hat tatsächlich Wahlen gewonnen und die Mehrheit der Stimmen bekommen - wie Lukaschenko. Diese Wahlen waren aber alles andere als koscher. Dazu habe ich viel geschrieben.

"Die privaten Medien sind mehrheitlich gegen Chávez und existieren mehrheitlich trotzdem."

Ich würde gern wissen, welche private Medien Herr Zeuske in Calabozo und in Maturín, in Puerto Cabello und in Acarigua gesehen hat. 70% der Bevölkerung hat keinen Zugang zu regierungskritischen Fernsehsendern und weniger haben die Gewohnheit, Zeitungen zu lesen. Ich würde gern wissen, wie leicht Herr Zeuske El Nacional oder El Universal ausserhalb von den drei wichtigsten Städten finden kann. Leichter als Novaja Gazeta in Russland?

Herr Zeuske sagt, der Chavismus sei keine normale Revolution, sondern eine Reformrevolution, die versucht, "mit zentralstaatlichen Mitteln und Neuorganisation des Politischen den Problemen...beizukommen: Gesundheit, Hunger, Wasser, Bildung, Armut, Lebensbedingungen, Arbeit, Gewaltenkontrolle - alles Aufgaben eines modernen Staates."

Ich würde gern wissen, wie sich das davon unterscheidet, von was die sehr korrupten AD und COPEI-Regierungen zwischen 1960 und 1998 getan haben. Hat die Chávez-Regierung weniger gestohlen? Wirklich? PUDREVAL? Plan Bolívar 2000? Haciendas vom Militär Chacín?

Ich würde darüber hinaus gern wissen, ob Herr Zeuske sich gründlich - wie ein Historiker halt- mit den ökonomischen Zuständen vor Chávez auseinandergesetzt hat und uns sagen kann, ob Chávez besser als die anderen abschneiden würde, wenn der Erdölpreis jetzt so niedrig wäre wie zwischen 1983 und 1998. In Wirklichkeit hat Chávez weniger für jeden Petrodollar geliefert, als die sehr korrupten Regierungen vor ihm. Hat Herr Zeuske durchgerechnet, was Chávez extra bekommen hat wegen der viel höheren Erdölpreise?

Herr Zeuske sagt, Chávez steht eher in der "Bolívar-Tradition". Ich bin baff. Bolívar war auch ein Caudillo, auch wenn er frühzeitig starb und gute Vorsätze - viel bessere als Chávez- hatte. Mehrere andere Caudillos- der von Chávez so gehasste Páez, aber auch Guzmán Blanco, Castro und Gómez behaupteten, in der Bolívar-Tradition zu sein. Zuallererst müssen wir einen Unterschied zwischen Diskurs und Realität machen. Wir müssen auch endlich begreiffen, dass Bolívar nicht die halbgöttliche Figur war, die Bolívar selbst verkaufen wollte. Bolívar wollte als Präsident fürs Leben regieren und hat nur dann aufgegeben, wenn er sah, was für ein Wiederstand das hervorrief. 

Chávez ist schon ein Caudillo. Und was den Sozialismus des 21. Jahrhunderts anbelangt: das ist Heinz Dieterich's wet dream für Chávez. Von Sozialismus haben wir bis jetzt nichts. Wir haben nur Petropopulismus zu $100 pro Fass.

Frage an Herrn Zeuske: wie würde ein lateinamerikanischer Caudillo sonst im 21. Jahrhundert aussehen, wenn nicht wie Chávez? Muss er auf Wahlen verzichten? Oder Wahlen wie in Nicaragua veranstalten? Oder muss er kein Militärakademieastudium haben? Oder ohne Twitter-Account?

De Rojas, ein anderer Caudillo